Neue Befunde zur Intelligenzentwicklung im Erwachsenenalter. Verändern sich kognitive Fähigkeiten im Erwachsenenalter vorwiegend gemeinsam oder unabhängig voneinander? Ein internationales Forschungsteam aus den USA, Schweden und Deutschland, an dem auch das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung beteiligt war, hat hierzu neue Befunde vorgelegt. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Science Advances veröffentlicht.
Berlin/Germany, 4. Februar 2022. Mit zwanzig fällt es Menschen in der Regel leichter, Neues zu lernen als mit siebzig. Dafür wissen Menschen mit siebzig zumeist mehr über die Welt als mit zwanzig. In der Psychologie der Lebensspanne bezeichnet man dies als den Unterschied zwischen „fluiden“ und „kristallinen“ Fähigkeiten des Gehirns. Fluide Fähigkeiten erfassen in erster Linie individuelle Unterschiede in der Leistungsfähigkeit des Gehirns zum Zeitpunkt der Messung, kristalline Fähigkeiten vornehmlich individuelle Unterschiede in Wissensbeständen. Fluid kommt aus dem lateinischen fluidus und bedeutet flüssig, fließend. Kristall hingegen aus lateinisch crystallus bzw. aus dem griechischen krystallos und steht in beiden Fällen für Eis; Bergkristall. Dabei ist es noch nicht einmal selten das Zustandsaggregate mit einer festen Form in ihrer Basis aus Atomkristallen bestehen.
Wenn man in das Gehirn blickt, dann findet man dort eine grosse Ansammlung von Neuronen, Nervenzellen die miteinander verknüpft sind. Wege und Themen die man häufig geht, verstärken ihre Synapsen, was die Schnittstellen der Kommunikation zwischen den Neuronen ist. Man kann daher sagen, wenn ein Leben gleichmässig verlaufen würde, z.B. man wohnt am gleichen Ort, Arbeitet immer dasselbe, macht den gleichen Sport und hat immer die gleichen Wege, dann entwickelt sich das Gehirn an den stellen verstärkt und wird durch den Verlauf der Zeit um Erfahrungswerte bereichert, was durchaus einem kreativen Denken förderlich ist. Ansonsten, der über die Jahrzehnte andauernde Aufbau ist dabei kristallin, wie die Forschung zeigt.
Unabhängig aller Störungen im Leben, fließen daher bei einem älteren Gedächtnis mehrfache Erfahrungswerte mit ein. Besser ausgedrückt, in einen Moment des Denkens fallen um ein vielfaches mehr Erfahrungswerte mit ein, je älter der Mensch und intensiver seine Erfahrungen. Während ein junger Mensch sein Wissen eher oder bevorzugt fluid aufzeichnet.
Noch deutlicher wird das gesamte Thema wenn man sich auf den Entwurf der Psychosozialen Stadien des Psychoanalytikers Erik Homburger Erikson beruft. Dieser Unterscheidet unterschiedliche Lebenserfahrungen, geordnet nach Alter und Bewältigung, nach den bewältigten inneren Konflikten des Menschen. In diesen Stadien stellt sich der Mensch einem inneren Konflikt, bei dem der eigentliche Konflikt das Motiv ist, und das Ziel das der Konflikt beendet und bereinigt werden kann. So bsw. Würde sich der Mensch in einem Alter, vielleicht der Adoleszenz, also der Jugend mit dem Konflikt, genannt Identität vs. Identitätsdiffusion beschäftigen. Der Mensch stellt sich dann in dieser Kernkonfliktphase ständig die Frage, „bin ich das“ oder „Ist das mein Gegenüber der oder die so handelt oder denkt“. Alle Erlebnisse in dieser Zeit können fallen in diesen Kernkonflikt. Jede Lebenserfahrung im kleinen wie im grossen wird durch die Frage dieses Konfliktes betrachtet. Das Ziel muss sein das ich weis wer ich bin und das ich in der Lage bin mich gegenüber einem anderen Individuum abgrenzen zu können, sowohl innerlich als auch, damit verbal. Bei diesem Wettlauf, bei diesem Konflikt steht am Ende der Sieg der eigenen Identitätsfrage. Kann diese Frage nicht gelöst werden, bleibt die Frage Zeit des Lebens ungeklärt oder solange bis diese Phase geklärt werden kann.
Ob abgeschlossen oder nicht, nach dieser Phase öffnet sich die nächste Frage des inneren Konfliktes. So bsw. Nannte Erikson eine weitere Phase Minderwertigkeit vs. Werksinn. Dabei sollte der dauerhafte Zustand des Menschen im Lebensfluss den Werksinn erreichen. Alle Fragen des weiteren Lebens nach der Phase würde das Individuum dann aus Perspektive des Werksinns stehen.
Ein entsprechender stabiler Aufbau dieser psychosozialen Lebensabschnitte hätte damit auch einen ordentlichen und damit ein krystallines Wachstum des Gehirns zur Folge.
Insofern darf man sagen, ein ausgewachsenes und reifes Gehirn, berücksichtigt während eines Denkprozesses mehr und umfangreichere Lebensbedingungen und Fragen als ein unreifes heranwachsendes Gehirn das noch viel mit fluiden Denkprozessen beschäftigt wird.
Dementsprechend unterscheiden sich fluide und kristalline Fähigkeiten in ihren durchschnittlichen Altersverläufen. Während fluide Fähigkeiten, wie zum Beispiel die Merkfähigkeit, bereits im mittleren Erwachsenenalter abnehmen, zeigen kristalline Fähigkeiten, wie zum Beispiel der Wortschatz, bis ins höhere Erwachsenenalter Zuwächse und nehmen erst im fortgeschrittenen Alter ab.
Diese Divergenz der durchschnittlichen Verläufe fluider und kristalliner Fähigkeiten hat zu der Annahme geführt, dass Menschen ihre fluiden Verluste durch kristalline Gewinne ausgleichen können. Wenn bei einer Person zum Beispiel die Merkfähigkeit nachlässt, so kann sie dies, so die Annahme, durch ein Mehr an Wissen wettmachen.
Die Studie eines Forschungsteams aus Deutschland, Schweden und den USA zeigt nun, dass dieser Kompensationshypothese engere Grenzen gesetzt sind als bislang vielfach behauptet. Die Forscherinnen und Forscher analysierten die Daten zweier Verlaufsstudien, der ‚Virginia Cognitive Aging Project (VCAP)‘ Studie aus den USA und der ‚Betula‘ Studie aus Schweden. In der VCAP-Studie wurden mehr als 3600 weibliche und 1900 männliche Personen untersucht, die zum Zeitpunkt der ersten Erhebung zwischen 18 und 99 Jahre alt waren und über einen Zeitraum von bis zu 18 Jahren bis zu achtmal untersucht wurden. An der Betula-Studie nahmen rund 1800 Frauen und 1500 Männer teil. Die Probanden waren zum ersten Messzeitpunkt zwischen 25 und 95 Jahre alt und wurden über einen Zeitraum von maximal 18 Jahren bis zu viermal untersucht.
Das Forschungsteam nutzte multivariate Methoden der Veränderungsmessung, um zu bestimmen, in welchem Ausmaß individuelle Unterschiede in den Veränderungen kristalliner Fähigkeiten mit individuellen Unterschieden in fluiden Veränderungen zusammenhängen. Das Ergebnis ist eindeutig: In beiden Studien wurden sehr hohe Zusammenhänge zwischen den Veränderungen beobachtet. Daraus folgt, dass die individuellen Unterschiede in der kognitiven Entwicklung übergreifend sind und nicht der Unterscheidung zwischen fluiden und kristallinen Fähigkeiten folgen. Anders ausgedrückt: Personen, die größere Verluste in fluiden Fähigkeiten aufweisen, zeigen zugleich auch geringere Gewinne in kristallinen Fähigkeiten. Personen, die in ihren fluiden Fähigkeiten kaum nachlassen, zeigen auch große Zuwächse in kristallinen Fähigkeiten.
Diese Befunde entsprechen der Beobachtung im Alltag, dass manche Menschen in vielen Bereichen bis ins hohe Alter geistig fit sind, während bei anderen die kognitive Leistungsfähigkeit generell stark abnimmt.
„Intelligenzforscherinnen und Forscher sprechen oft von einem Generalfaktor oder g-Faktor, der zum Ausdruck bringt, was verschiedenen kognitiven Fähigkeiten gemeinsam ist“, erläutert Elliot Tucker-Drob, Erstautor der Studie und Professor am Department of Psychology und dem Population Research Center der University of Texas in Austin, USA. „In früheren Arbeiten hatten wir bereits nachgewiesen, dass nicht nur Unterschiede zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern auch Veränderungen kognitiver Fähigkeiten einen Generalfaktor bilden. Diese Befunde zeigen dies erneut. Und sie bestätigen, dass sich auch Veränderungen in kristallinen Fähigkeiten diesem Generalfaktor der Veränderung zuordnen lassen.“
„Unsere Befunde machen eine Überarbeitung des Lehrbuchwissens erforderlich“, ergänzt Ulman Lindenberger, Direktor des Forschungsbereichs Entwicklungspsychologie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. „Wenn nämlich diejenigen mit den größten fluiden Verlusten die geringsten kristallinen Zuwächse zeigen, dann setzt dies der kompensatorischen Kraft von Wissenszuwächsen engere Grenzen als bislang angenommen.“ Zum Beispiel zeigen Personen, deren Gedächtnis besonders stark nachlässt, zugleich einen geringeren Zuwachs an Wissen, obwohl sie einen derartigen Zuwachs am dringendsten benötigen würden. Umgekehrt seien Personen mit geringen fluiden Einbußen und kräftigen kristallinen Gewinnen von vornherein weniger auf kompensatorische Prozesse angewiesen.
Die Ergebnisse unterstreichen die große Bedeutung, die der Identifikation und Förderung veränderbarer Einflüsse zukommt, die zur generellen Aufrechterhaltung kognitiver Fähigkeiten im Erwachsenenalter beitragen. Hierzu gehört zum Beispiel körperliche Bewegung, die kardiovaskulären Erkrankungen vorbeugt und damit auch zur Erhaltung kognitiver Fähigkeiten beitragen kann.
Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung wurde 1963 in Berlin gegründet und ist als interdisziplinäre Forschungseinrichtung dem Studium der menschlichen Entwicklung und Bildung gewidmet. Das Institut gehört zur Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V., einer der führenden Organisationen für Grundlagenforschung in Europa.
Originalpublikation:
Tucker-Drob, E. M., de la Fuente, J., Köhncke, Y., Brandmaier, A. M., Nyberg, L., & Lindenberger, U. (2022). A strong dependency between changes in fluid and crystallized abilities in human cognitive aging. Science Advances, 8, Article eabj2422. (https://doi.org/10.1126/sciadv.abj2422)
Weitere Informationen:
(https://www.mpib-berlin.mpg.de/pressemeldungen/wer-wenig-an-merkfaehigkeit-verliert-gewinnt-auch-viel-an-wissen?c=58887)
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