Vorübergehende Krise, Typsache oder echte Störung: Wer benötigt Psychotherapie?


Wer sich in Deutschland derzeit um eine Psychotherapie bemüht, wartet im Schnitt 20 Wochen auf den ersten Termin. Die Nachfrage übersteigt das Angebot deutlich, obwohl sich die Zahl der in entsprechenden Praxen tätigen TherapeutInnen von 2006 auf 2021* mehr als verdoppelt hat. PsychologInnen der Universität Duisburg-Essen sehen einen möglichen Grund dafür in einer „Diagnosekultur“ und einer überbordenden Sensibilisierung der Gesellschaft, in der Persönlichkeitsunterschiede und vorübergehende seelische Krisen zunehmend pathologisiert werden. So erhalten behandlungsbedürftige Menschen mitunter keine oder erst späte Hilfe. Die AutorInnen schlagen eine alternative Herangehensweise vor.

Duisburg-Essen, 07. Oktober 2024. In einer Verbindung zwischen dem Schwerpunkt Führung und Management als auch Künstliche Intelligenz stellte sich im Studium Informations- und Kommunikationsmanagement die Frage, ab welchem Zeitpunkt genau wird zwischen einer psychischen Störung und einem Coaching unterschieden. Während Coaching auch von Laien angeboten werden kann, wäre psychotherapeutische Betreuung ein grob fahrlässiges und verantwortungsloses Verhalten an Menschen, würde man dies ohne aufsichtsbehördliche Einrichtungen zulassen.

Wie es seinerzeit bereits der Humanpsychologe Abraham Maslow beschrieben hatte, hat der Großteil von Menschen mit psychischen Störungen zu kämpfen. Dem Teil, dem dies erspart bliebe, widmet sich in der Regel auch den entsprechend anspruchsvollen Berufen wie Arzt und Ärztin oder Psychotherapeutischen Berufen. Interessanterweise aber hat der Psychoanalytiker Erikson einmal unschwer erkannt und festgehalten, so akribisch der menschliche Körper aufgebaut und zeitlich getaktet entsteht, so unwahrscheinlich ist es, das die Entstehung eines perfekten Menschen gewollt sein kann. Aktuell ist der Trend noch umgekehrt. Es wird mehr verdrängt als geöffnet.

Nach Daten des Robert-Koch-Instituts haben im Mittel 27,8 Prozent der Erwachsenen in Deutschland eine psychische Störung. Warum sinkt diese Zahl trotz vermehrter Behandlungsangebote seit Jahren nicht, haben sich die AutorInnen Prof. Dr. Marcus Roth aus der Differentiellen Psychologie sowie Prof. Dr. Gisela Steins aus der allgemeinen Psychologie und Sozialpsychologie der Universität Duisburg-Essen (UDE) die Frage gestellt?
Sie gelangten zu der These: In der Praxis werden möglicherweise oft Störungen behandelt, die bei genauerer Betrachtung keine sind. So stellt die „Anpassungsstörung“ bei den Psychologischen PsychotherapeutInnen die Hauptdiagnose dar – eine erheblich die Lebensqualität beeinträchtigende Reaktion auf ein zurückliegendes oder bestehendes Ereignis.
Doch stellte sich den WissenschaftlerInnen weiterhin die Frage, sind Krisen durch kritische Lebensereignisse immer diagnosebedürftig? „Jeder zweite verheiratete Mensch wird den Verlust des Partners oder der Partnerin erleben müssen; fast alle den Tod der Eltern“, konkretisiert Roth. Tragische Ereignisse wie diese gehen mit Trauer und Belastungen einher, sind aber Teil des Lebens und in der Regel nach etwa sechs Monaten überwunden oder deutlich verbessert.
Wo endet nach einem Verlust zu erwartende Trauer, wo beginnt eine Depression? Wann ist außergewöhnliches Verhalten reine Charaktereigenschaft, wann behandlungsbedürftig?

Der erhebliche Mangel an ärztlicher oder therapeutischer Betreuung bringt den Zwang mit sich, dass Menschen sich mit Problemen zunehmend auch selbst beschäftigen müssen. Zwangsläufig ein grosses Gefahrenpotenzial und auf der anderen Seite die kleine Chance sich aus der Masse hervorzutun.

Wenn ich aber heute das Thema künstliche Intelligenz nehme, dann beschäftigen wir uns im Zuge dieser Entwicklung tiefgründiger mit bestimmten Themen wie dem Lernen, der Darstellung von Emotionen, der Umsetzung von Mikroexpression an künstlich entwickelten Gesichtern. Diese Fragen, vor allem mit der Entwicklung automatisch generierter Sprachen wie die aktuell prominenteste ChatGPT werden später auch ethisch hinterfragt und finden damit Eingang in die allgemeine öffentliche Diskussion. Menschen teilen Nöte, Sorgen und Zuversichten. Aber, im Kern sprechen wir darüber, was auch bedeutet, wir denken darüber nach. Unser menschliches Bewusstsein stellt diese Themen ins Zentrum des gegenwärtigen Zeitgeistes.

Ab diesem Zeitpunkt extrahiert, veräußert sich der eigentliche Individualismus des Menschen, die Vielfalt, vielfältigen Möglichkeiten von Persönlichkeiten treten sichtbar ins Bewusstsein der Gesellschaft. Man sagt, um ca. 1850 sei die Industrielle Revolution entstanden. Erst mit der Entwicklung spezifischer Großmaschinen konnten Massen, bevorzugt in den Grundbedarfen wie Textil und Bekleidung auf eine Weise produziert werden, das die breite Masse sich Kleidung leisten konnte. Aktuell entsteht mit all diesen Effekten eine Umkehr. Nicht mehr die Befriedigung der Masse steht im zentralen Wirken des Denkens, sondern das Herausheben des individuellen Charakters steht im Zentrum des Denkens, Wirkens und Handelns. Letztlich stehe ich in absehbarer Zeit einem technologisch ausgereiften Spiegelbild vor mir. Es wird individuell produziert, eine Rückkehr zur Reparatur findet statt, Service kann nicht mehr überall angeboten oder abgedeckt werden, Menschen helfen sich zunehmend selbst, weil die technologischen Möglichkeiten zunehmend geboten sind. Auf diese Weise erlangt der Mensch ein tieferes Bewusstsein über sich selbst. Die Tendenz in der modernen Gesellschaft geht in die Richtung, Menschen wollen zunehmend partnerlos sein, aber in Gruppen, Communitys organisiert. Während die früheren Generationen noch unter der Vorstellung von Einsamkeit erheblich zu leiden haben, sind jüngere Generationen schon so organisiert, dass sie sich individuell entfalten können.
Das Problem stellt sich dann, wenn Hilfe erforderlich wird.

Im Hinblick auf den Solidaritätsgedanken und der Daseinsberechtigung von Krankenkassen wird von den Autoren das Thema zum zentralen Diskussionspunkt. Der Handlungsbedarf ist erkannt. „Doch wenn wir das Thema jetzt nicht diskutieren, wird es eine sehr harte Diskussion, wenn die Kassen aufgrund des demografischen Wandels leerer sind“, berichtet Roth.
Roth und Steins schlagen einen alternativen Pfad vor, der die Solidargemeinschaft weniger belastet und gleichzeitig Therapieplätze schafft für diejenigen, die sie aufgrund ihrer klinischen Symptomatik dringend benötigen: Erwachsene, die unter psychischen Beeinträchtigungen leiden, aber nicht unbedingt eine Psychotherapie benötigen, sollten niedrigschwellige Angebote erhalten wie zum Beispiel Coachingsitzungen, Beratungen, Selbsthilfegruppen oder Online-Angebote.
„Wir sollten mehr darauf vertrauen, dass Normalität verschiedene Facetten haben kann, wie wir es ohnehin derzeit unter dem Begriff der ‚Diversität‘ diskutieren“, schließt Roth.

Originalpublikation:

(https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000678)


Bildquelle Mohamed Hassan Pixabay


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