So erkennen wir die Gefühle anderer Personen


Erkennen und Lesen von Informationen aus Gesichtsausdrücken galt lange Zeit als überlebenswichtige Basis. Aktuell ist das zwar weniger dramatisch und entscheidet gegenwärtig eher über Erfolg und Misserfolg. Im Zuge der Künstlichen Intelligenz könnte sich dies aber wieder ändern und eine Neuauflage erfahren. Denn mit der Evolution zur Künstlichen Intelligenz wird so manches wieder neu ins Bewusstsein gerückt was einmal Bestandteil der menschlichen Evolution war. Dr. Leda Berio und Prof. Dr. Albert Newen vom Institut für Philosophie II der Ruhr-Universität Bochum forschen zu diesem Thema. Das Team beschreibt die Emotionserkennung nicht als abgegrenzte Teilfähigkeit, sondern als Teil eines umfassenden Prozesses, mit dem Menschen sich einen Gesamteindruck einer Person machen. Die Arbeit ist am 24. September 2024 in der Zeitschrift „Philosophy and Phenomenological Research” erschienen.

Bochum, 11. Oktober 2024. Der Wissenschaftler Paul Ekman beschrieb in den 1970er Jahren Basisemotionen wie Angst, Ärger, Ekel, Freude oder Traurigkeit als typische Gesichtsausdrücke die man über Kulturen hinweg als gleichartig betrachtet hatte. „Allerdings wurde in den vergangenen Jahren zunehmend deutlich, dass in vielen Lebenssituationen ein typischer Gesichtsausdruck nicht die zentrale Information sein muss, die unsere Einschätzung von Gefühlen anderer leitet“, sagt Dr. Albert Newen. Als Beispiel nennt er: „Menschen schätzen einen typischen Gesichtsausdruck von Angst fast durchgängig als Ärger ein, wenn sie das Hintergrundwissen haben, dass die Person gerade von einem Kellner abgewiesen wurde, obwohl sie nachweislich einen Tisch reserviert hatte.“

Affektiv betrachtet erwartet ein grossteil der Menschen, dass die Person sich ärgert. Die Erwartung bestimmt dann die Wahrnehmung der Emotion. Das gilt auch dann, wenn der Gesichtsausdruck typischerweise einer anderen Emotion zugeschrieben wird.
„Wir können Emotionen manchmal auch erkennen, ohne überhaupt das Gesicht zu sehen. Zum Beispiel die Angst einer Person, die von einem bissigen Hund attackiert wird und die wir nur in einer Haltung von Erstarrung und Erschrecken von hinten sehen“, veranschaulicht Dr. Leda Berio.

Die beiden WissenschaftlerInnen entwickeln die These, Emotionen zu erkennen sei ein Teilprozess der Fähigkeit den Gesamteindruck einer Person zu formen. Hautfarbe, Alter, Geschlecht, auch kulturelle Merkmale wie Kleidung, Attraktivität oder Gestik und Körperhaltung sind nonverbale und vestimentäre Informationen welche versucht sind das Gegenüber so gut als möglich zutreffend einzuschätzen.
Aktuell wird Spiegelung und teilweise, wer es beherrscht, Cold Reading des Öfteren im Verkauf genutzt. Cold Reading meint dabei das Sprechen der Verkaufsperson um zu erkennen ob die Kundschaft auf Reizworte reagiert.
Zu beschreibende Alltagssituationen oder Storytelling sind Situationen die VerkäuferInnen und Kunden miteinander verbinden. Wenn ich Bekleidung für Skisport oder Trailrunning verkaufe, diese Sportarten selbst betreibe, dann ist ein Höchstmass an potenzieller Spiegelung gegeben. Eine der potenziell aufrichtigsten und erfolgreichsten Formen im Verkauf. Die richtige Strategie führt zum Erfolg, die weniger richtige sichert das Überleben.

Die jeweilige flotte Einschätzung des Gegenübers wird unmittelbar mit sozialem Status oder Persönlichkeitseigenschaften verbunden. Die Wahrnehmung der Gefühle wird von diesen Assoziationen stark bestimmt. „Wenn wir eine Person als Frau wahrnehmen und sie eine negative Emotion zeigt, schätzen wir die Emotion eher als Angst ein, bei einem Mann eher als Ärger“, gibt Berio ein Beispiel. Demnach spielt die Sozialisierung bei der Einschätzung eine grosse Rolle.


Zusätzlich verfügen Menschen neben der Wahrnehmung von Merkmalen und ersten Assoziationen über reiche Personenbilder, die für einzelne Personen – Familienmitglieder, Freunde und KollegInnen – als Hintergrundinformation angelegt sind. Aufgrund von Ethnologisch starken gesellschaftlichen Veränderungen nimmt aber auch die Vielfalt an Möglichkeiten und möglichen Rollenbildern zu. Insofern helfen Hintergrundinformationen dazu richtig Einschätzungen von Rollenbildern vorzunehmen, die Übertragung auf andere Menschen kann aber ein ganz anderes Bild liefern.
„Wenn ein Familienmitglied unter Parkinson leidet, lernen wir den üblichen Gesichtsausdruck dieser Person, der eher ärgerlich aussieht, als neutralen Ausdruck einzuschätzen, weil wir wissen, dass der starre Gesichtsausdruck Teil der Erkrankung ist“, sagt Berio.

Zu den Hintergrundinformationen gehören auch Personenmodelle von typischen Berufsgruppen. „Wir haben stereotypische Annahmen von Ärzten, Studierenden, Handwerkern zu ihren sozialen Rollen und Aufgaben“, sagt Newen. „Wir nehmen Ärzte etwa allgemein als weniger emotional wahr, und daher ist die Gefühlseinschätzung verändert.“

Auch Erfahrungswerte mit durchlebten positiven oder negativen Lebenslagen lassen Menschen mit entsprechenden Emotionen im Lebensverlauf unterschiedlicher umgehen. Über primitive Witze kann man nicht mehr unbedingt in affektivem Gelächter ausfahren, und nicht jeder Verlust muss eine tiefe Emotion von Trauer mit sich bringen. In gewissen Dingen stellen sich Formen von Professionellem Verhalten ein, auf die Menschen gelassen oder gelassener reagieren oder mit anderen, weniger zu erwartenden Emotionen.

Menschen machen also, um die Emotion einer anderen Person einzuschätzen, von dem großen Reichtum der Merkmale und des Hintergrundwissens Gebrauch. Nur in seltenen Fällen lesen sie die Emotion alleine vom Gesichtsausdruck einer Person ab. „Das hat auch Konsequenzen für das Emotionserkennen mit künstlicher Intelligenz (KI), die erst dann zuverlässig möglich sein wird, wenn sich die KI nicht nur auf den Gesichtsausdruck stützt, wie es die meisten Systeme gegenwärtig tun“, so Newen.



Förderung

Die Arbeiten fanden im Rahmen der vom Land NRW geförderten Profillinie „Interact! New forms of social interaction with intelligent systems“ statt.

Originalpublikation:


Leda Berio, Albert Newen: I Expect You to Be Happy, So I See You Smile: A Multidimensional Account of Emotion Attribution, in: Philosophy and Phenomenological Research, 2024, DOI: 10.1111/phpr.13113

Bildquelle: RUB, Kramer, Das Bochumer Forschungsteam: Albert Newen und Leda Berio


Beitrag veröffentlicht

in

von

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert