Niemals zuvor haben Menschen mehr Informationen über ihr Leben aufgezeichnet als heute. Was aber bedeutet das für die Art und Weise, wie wir uns an unser Leben erinnern und wie wir von ihm erzählen? Ein Forschungsteam der Universität Würzburg und des Tübinger Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM)versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Gemeinsam mit JMU-Professor Markus Appel und Professor Stephan Schwan vom Leibniz-Institut für Wissensmedien Tübingen hat er deshalb in der renommierten Fachzeitschrift Psychological Inquiry einen Artikel über das autobiografische Erinnern im digitalen Zeitalter veröffentlicht. Der Aufsatz soll Orientierung in diesem noch weitgehend unerforschten Feld bieten.
Würzburg 07. Oktober 2024. Technologische Entwicklungen wurden seit je her ein Spiegel zur menschlichen Entwicklung. Angefangen vom Zeitpunkt der Entstehung von Bedürfnissen, bis zur Fähigkeit diese Bedürfnisse auch befriedigen zu können. Die Befriedigungen von Bedürfnissen ist dabei auch tatsächlich zentraler Mittelpunkt dieser Entwicklung. Die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz hat schon seit Jahrzehnten einen eigenen Werdegang, ist daher nicht ernsthaft neu, aber, sie gehört zweifellos zu den radikalsten Innovationen der Menschheitsgeschichte.
Erst Ende der 1990 Jahre fand ein Übergang von der ursprünglichen VHS Kassette und ihrer Kamera hin zu kleineren, mobileren technischen Geräten statt, verbunden mit einer deutlichen Mehrfachnutzung während die Geräte immer kleiner wurden. Analog dazu ging der Zeitpunkt für Video und Fotoaufzeichnungen weiter zurück. In den 1970er Jahren nahm man noch vereinzelte besondere Ereignisse auf, heute gibt es in vielen Haushalten umfangreiche Aufzeichnungen noch vor der Entstehung der Geburt bis weit ins Erwachsenenalter hinein. Die digitalen Aufzeichnungen gehen heute allerdings um ein Vielfaches weiter und Tiefer, oder zum besseren Verständnis von der Analogen zur digitalen Welt in die Breite eines Gedächtnisses als auch in deren Tiefe.
Welche Veränderungen damit für ein Autobiografisches Gedächtnis einhergehen, damit beschäftigen sich seit jüngster Zeit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Würzburg und dem Tübinger Leibniz-Institut für Wissensmedien. Wie die Forschungsgruppe beschreibt, ist das Thema noch Jung und ganz am Anfang.
„Man kann sehr unterschiedliche Intuitionen dazu haben, wie diese verdichtete Aufzeichnung unseres Lebens zu bewerten ist“, erklärt Dr. Fabian Hutmacher, Mitarbeiter am Lehrstuhl Kommunikationspsychologie und Neue Medien der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg. „Manche hoffen beispielsweise, dass wir auf diese Weise den Schwächen und Verzerrungen des menschlichen Gedächtnisses etwas entgegensetzen können. Andere befürchten eher, dass so neue Missbrauchs- und Überwachungspotenziale entstehen.“
Was wir heute sind, das ist im Wechselspiel mit unserer Umwelt entstanden. So etwa ist das Farbsehen durch das Auge ein Ergebnis des Wechselspiels zwischen menschlicher Evolution und er Vielfalt der Blüten- und Pflanzenwelt. Dass wir auf Ressourcen außerhalb unseres eigenen Geistes zurückgreifen, wenn wir uns an vergangene Ereignisse zu erinnern versuchen, ist demnach keine Erfindung des digitalen Zeitalters, sondern eine Konstante der Menschheitsgeschichte.
Aus Sicht eines Gehirns kann man ganz sicher einen Vergleich ziehen zwischen der Entstehung und Betrachtung von Höhlenmalereien, wie sie einmal entstanden sind, hin zum heutigen Entstehen eines Bildes durch ein Smartphone und deren nachfolgend resultierenden Gedanken.
„Was die digitalen Ressourcen aber von diesen anderen Optionen unterscheidet, ist neben der bereits angesprochenen Möglichkeit zur verdichteten Aufzeichnung auch die Tatsache, dass wir so eine multimediale Datenbasis erhalten, die wir relativ einfach durchsuchen können und die uns – zumindest potenziell – immer und überall zur Verfügung steht“, erläutert Fabian Hutmacher. „Digitale Ressourcen sind nicht nur passive Speicher, sondern erlauben es – beispielsweise mittels Künstlicher Intelligenz – Aufzeichnungen aufzubereiten und anzupassen, um etwa digitale Urlaubs- oder Hochzeitsalben zu erstellen. Das kann unsere Sicht auf vergangene Erlebnisse nachhaltig beeinflussen“, ergänzt Professor Stephan Schwan, der am Tübinger Leibniz-Institut für Wissensmedien die Arbeitsgruppe Realitätsnahe Darstellungen leitet.
Quantitative Daten, wie etwa das Tracken von Laufstrecken, Herzfrequenz und Schlafzyklus, besonders gut geeignet, um langfristige Verhaltenstrends zu entdecken. Andere Daten wie Fotos und Videos werden dagegen eher herangezogen, wenn es um ein Schwelgen in Erinnerungen oder ein genaueres Nachdenken über vergangene Ereignisse geht.
Doch gerade an diesem Punkt wo es um das herbeiführen von Erinnerungen geht, gibt es noch viele Unbekannte die zu berücksichtigen sind. Hier wird zu erwarten sein, das es in der menschlichen Intelligenz noch ein Wachstum gibt, das bisher von der Künstlichen Intelligenz noch nicht erfasst wurde.
„Autobiografische Erinnerungen sind ein wichtiger Teil dessen, was uns als Menschen ausmacht. Umso wichtiger ist weitere Forschung in den kommenden Jahren.“
In der Realität wird bis heute ein Aspekt sehr häufig außer Acht gelassen, der in der Zukunft eine herausragende Rolle spielen könnte. In der Werbegeschichte greift man auf sich wiederholende Ereignisse zurück. Um einer Sache echte Authentizität zu geben, nimmt man Schriftarten, Design- und Schmuckelemente aus einer Zeit in der es bereits ähnliche Aktivitäten gab und setzt sie zu neuen aktuelleren Entwürfen zusammen für ein aktuell zu umwerbendes Element. Um psychologische Probleme zu lösen, wird häufig in die Vergangenheit geblickt, weil bekannt ist das sich diverse Ereignisse im Leben immer wieder erneut auftreten. In vielen Fällen dominiert die Sichtweise aus Perspektiven betriebswirtschaftlicher und volkswirtschaftlicher Ereignisse. Es sind lineare Folgen, während zyklische Folgen eher im Hintergrund und gebrochen erscheinen.
In zukünftigen Studien möchte Fabian Hutmacher die Feinheiten des Zusammenspiels von aufgezeichneten Daten und den Erinnerungen, die wir in uns tragen, noch genauer untersuchen. Wichtig ist ihm dabei auch die Frage, wie sich die aufgezeichneten Daten so nutzen und organisieren lassen, dass sie Menschen wirklich dabei helfen, sich an ihre Vergangenheit zu erinnern. Das Junge Kolleg der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in das Fabian Hutmacher Anfang 2024 aufgenommen wurde, fördert seine Forschungen.
Originalpublikation:
Hutmacher, F., Appel, M., & Schwan, S. (2024). Understanding autobiographical memory in the digital age: The AMEDIA-model. Psychological Inquiry, 35(2), 83–105. https://doi.org/10.1080/1047840X.2024.2384125
Bildquelle Carola68 Pixabay
Schreibe einen Kommentar