Mehr als Corona Arbeitsbelastung, Personalengpässe und neue Erfassungsmethoden als Ursachen für hohe Krankenstände


Krankenkassen vermelden ein grosses Wachstum an ungewöhnlich hohe Fehlzeiten. Zeitgleich ist die Erfassung von Krankenständen vielerorts digitalisiert und damit genauer erfasst. Verschiebungen auf den Arbeitsmärkten, als auch eine wachsende Verdichtung von Arbeitsdruck aufgrund wachsender Fehlzeiten und Fachkräftemangel sind Anlass für das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung tiefgründiger nachzufragen und erstellen daher eine Analyse.

Düsseldorf, 01.Oktober 2024. Aktuell beobachten ÖkonomInnen und ArbeitgebervertreterInnen wachsende Krankenstände in der BRD mit grosser Sorge und hinterfragen aktiv die Hintergründe. Atemwegserkrankungen mit teils schwerem Verlauf, belastende Arbeitsbedingungen, Personalmangel, zu wenig betriebliche Prävention, Probleme in der sozialen Infrastruktur wie bsw. Kinderbetreuung und ältere Beschäftigte werden als die höchsten Faktoren durch das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung analytisch festgestellt.

Allerdings werden Krankmeldungen aktuell systematischer erfasst und die Statistik bildet die tatsächlichen Krankenstände damit realistischer ab als früher.

„In manchen Medien wird angesichts höherer Fehlzeiten suggeriert, dass Beschäftigte bei Erkrankungen schneller zu Hause bleiben oder gar krankfeiern. Dahinter, so der Verdacht, stehe geringere Leistungsbereitschaft und dass man in Zeiten von Fachkräftemangel weniger negative Konsequenzen zu befürchten habe. Es mag Einzelfälle geben, aber als grundsätzliche Erklärungsansätze sind solche Verkürzungen gefährlich, weil sie den Blick auf die wirklich relevanten Ursachen verstellen“, sagt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI. „Nur wenn man die strukturellen betrieblichen und sozialen Ursachen kennt und ernst nimmt, kann man wirksam etwas gegen hohe Krankenstände tun.“, erklärt Dr. Elke Ahlers, WSI-Expertin für Gesundheit am Arbeitsplatz und Autorin der Analyse.

Krankenstände sind seit der Pandemie auf vergleichsweise historisch hohem Niveau. Elke Ahlers beobachtet, die Angst den Job zu verlieren hat sich seit den 2000er und mit Beginn der 2010er Jahre wesentlich verändert. Die Angst ging zurück und Forschende deklarierten weniger Krankenstände mit dem Begriff Präsentismus. Damit waren Beschäftigte beschrieben die Krank zur Arbeit gingen anstatt sich auszukurieren. Seither sind die Arbeitsmärkte bis heute robuster geworden. Die Märkte haben sich verschieben, gedreht.

Dr. Ahlers sieht aber die Arbeitsbedingungen inzwischen als wesentlich höheren Faktor für wachsende Krankenstände an. Hektik und Erschöpfung sind seit Jahren ein stark wachsendes Problem. „Viele Beschäftigte leiden unter Personalengpässen, Fachkräftemangel, fehlenden Kinderbetreuungsplätzen und einer unsicheren wirtschaftlichen sowie politischen Lage“, umreißt WSI-Expertin Ahlers die Bandbreite der Belastungen. Daneben sei zunehmende Digitalisierung charakteristisch für die heutige Arbeitswelt, die zumindest übergangsweise zusätzlich stressen könne.
Eine Studie der Techniker Krankenkasse mache deutlich, das Umfang und Komplexität der zu bewältigen Aufgaben, hohe Informationsmenge und Umgang mit permanenten Veränderungen auffällig für hohe Belastungen seien. Die DAK-Krankenkasse bescheinigt einen Anstieg von bis zu 45 Prozent Betroffenheit durch starken Personalmangel als Belastung.
Eine daraus resultierende Arbeitsverdichtung liefert den Auffälligen Hinweise für einen wachsenden Druck auf die Produktivität und erforderlicher Effizienz.
Viele Beschäftigte könnten abends schlechter von der Arbeit abschalten, analysiert Ahlers. „Das alles wirkt sich auf die Arbeitszufriedenheit, auf das Betriebsklima und letztendlich auf die Gesundheit aus.“ Eine Befragung durch die WSI zeigt, 67 Prozent der betroffenen Befragten gaben an, dass sie die Ausfälle bei der Kinderbetreuung bzw. die zeitliche Verkürzung als belastend empfinden.

Gleichzeitig haben der demografische Wandel und auch die eingeschränkte Möglichkeit eines früheren Renteneintritts die Erwerbsbeteiligung Älterer in Deutschland steigen lassen. Diese von vielen Fachleuten als positiv eingeordnete Entwicklung hat gewissermaßen als Kehrseite, auch Auswirkungen auf den Krankenstand, stellt Ahlers fest. Krankenkassendaten belegen ebenfalls, dass krankheitsbedingte Fehlzeiten mit steigendem Alter zunehmen. Dies belegt nicht zuletzt die Tatsache das der Körper mit steigendem Alter exponentiell mehr Substanz abbaut, sofern nicht dagegen gewirkt werden kann.

Anstatt dieser Entwicklung unmittelbar entgegen zu wirken ist eine Flucht in anderer Richtung zu beobachten. Die Flucht, als Form einer deutlich erkennbaren Verschiebung in Urlaub oder Naturarenen dürfte ihren Ursprung hier gefunden haben. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen wachsendem einschlägigem Tourismus kann nur vermutet werden.

Eine Jahrelange Untererfassung aufgrund der mangelnden Digitalisierung der Krankenkassen täuscht allerdings über das gesamte Bild hinweg. Erst die Umstellung zu einer exakteren Erfassung der Krankheitsfälle und infolgedessen zu einer Korrektur einer jahrelangen Untererfassung dreht das Bild um, so Ahlers. „Die deutliche Erhöhung des Krankenstandes ist daher auch dieser Umstellung geschuldet, und das sollte fairerweise in der Debatte um hohe Fehlzeiten mitberücksichtigt werden.“

Statt sich über eine vermeintlich weniger leistungsbereite arbeitende Bevölkerung zu beklagen, müsse an den relevanten Ursachen der hohen Fehlzeiten angesetzt werden, betont die WSI-Gesundheitsexpertin. Wichtige Instrumente dafür seien zwar längst vorhanden, doch: „Das wird im Zuge des gesetzlichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes und einer konsequenteren Umsetzung von Gefährdungsbeurteilungen seit langem gefordert, aber von den Unternehmen nur halbherzig umgesetzt“, schreibt Ahlers.

In eigenen Studien hat die Forscherin herausgearbeitet, dass vor allem ein wirkungsvoller Schutz vor psychischer Überlastung vielfach noch zu kurz kommt. Zwar steigt zumindest in Betrieben mit Betriebsrat die Quote der Betriebe kontinuierlich, die regelmäßig psychische Gefährdungsbeurteilungen durchführen, wie die WSI-Betriebsrätebefragung von 2021 zeigte. Vollständig umgesetzt wurden solche Verfahren aber bislang trotzdem nur in rund zwei Dritteln der Betriebe, zudem scheinen auf die Analyse nicht zwingend Taten zu folgen. Untersuchungen anderer WissenschaftlerInnen zeigen ähnliche Defizite auf. Personalverantwortliche seien dringend gefordert, den Beschäftigten gute und faire Arbeitsbedingungen zu bieten, um den hohen Fehlzeiten entgegenzuwirken, mahnt Ahlers. Einseitige Schuldzuweisungen brächten hingegen nur eines: Noch mehr Druck und Stress.

Originalpublikation:

*Elke Ahlers: Was erklärt den hohen Krankenstand in den Betrieben? WSI Kommentar Nr. 3, Oktober 2024. Download: https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-008957

Bildquelle: MaksRylsky Pixabay


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